– Harte und langfristige Einschnitte zu erwarten –
Stuttgart, 28. April 2020. Die Luft- und Raumfahrtbranche ist mit weitreichenden bis zu existenzbedrohenden Folgen von der Corona-Krise betroffen. In einer aktuellen Umfrage des Bundesverbands der deutschen Luftfahrtindustrie (BDLI) sehen sich zwei Drittel der Unternehmen in der Luftfahrtbranche mit harten Einschnitten konfrontiert.
„Die Corona-Krise führte zu einem dramatischen Einbruch des weltweiten kommerziellen Luftverkehrs. Dadurch sind Airlines unter Druck geraten und verschieben oder streichen geplante Flugzeugabnahmen“, stellte der Vorsitzende des Forums Luft- und Raumfahrt Baden-Württemberg (LR BW), Prof. Rolf-Jürgen Ahlers, am 28. April fest. Dementsprechend passen die Flugzeughersteller ihre Produktion an, ganz zu schweigen von der geplanten Verstaatlichung von Alitalia, der geplatzten Übernahme von Condor durch LOT und den Problemen von South African Airways sowie der Lufthansa. Insbesondere Airbus reduziere die Fertigungsraten um 45 Prozent und habe bereits zeitweise ganze Produktionslinien geschlossen. „Dies“, so Ahlers, „hat unmittelbare Auswirkungen auf die Luftfahrtzulieferindustrie und führt zu Planungsschwierigkeiten und Liquiditätsengpässen, die bis zu wirtschaftlichen Existenzproblemen führen“. Deutschlandweit seien insgesamt 2.300 Betriebe und 111.500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der aktuellen Lage betroffen.
Baden-württembergische Zulieferindustrie stark betroffen
Bereits Ende März berichtete ein Drittel der vom LR BW befragten Mitgliedsunternehmen von Behinderungen in den Lieferketten. Zwar wurde die aktuelle Geschäftslage zu diesem Zeitpunkt noch als befriedigend eingestuft, jedoch blickten mehr als zwei Drittel der befragten Unternehmen pessimistisch in die Zukunft. Zudem stehen die Lieferketten unter Druck. Insbesondere der Außenhandel mit Frankreich, Italien, Schweiz und Spanien ist eingeschränkt und führt zu Lieferengpässen. Darüber hinaus fehlt es an Halbfertigzeugnissen und Rohmaterial. Nachfrageseitig hat sich die Situation seit der Corona-Krise wesentlich verschlechtert.
In der aktuellen BDLI-Studie, an der sich deutschlandweit insgesamt über 400 Unternehmen beteiligten, darunter 68 Unternehmen aus Baden-Württemberg, rechnen dieser Tage fast 90 Prozent mit weitreichenden oder sogar mit existenzbedrohenden Folgen aus der aktuellen Situation. Zwei Drittel der befragten Unternehmen sind schon jetzt direkt von der Corona-Krise betroffen.
Liquiditätsengpässe noch mehrere Jahre zu erwarten
Insbesondere macht den Unternehmen die Unsicherheit in Bezug auf die zukünftige Planung zu schaffen. Ein Einbruch der Auftragslage und Liquiditätsengpässe werden langfristige Folgen für die Luft- und Raumfahrtindustrie haben. Dies in einer Branche, die vor der Krise zu 90 Prozent finanziell gesund aufgestellt war und jedes Jahr Wachstumsraten über 4 Prozent verzeichnen konnte. Fast 70 Prozent der befragten Unternehmen gaben nach den Worten von LR BW-Geschäftsführer Wolfgang Wolf an, aktuell Liquiditätsengpässe zu spüren. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen der Luftfahrtzulieferindustrie seien davon betroffen. „Allein im Mitgliederkreis des LR BW entsprechen über 70 Unternehmen der europäischen Definition von KMU. Deshalb ist fast die Hälfte der Branche auf Darlehensprogramme von Bürgschaftsbank, L-Bank und KfW angewiesen“, stellte Wolf weiter fest. Ein Fünftel der befragten Unternehmen gehe sogar von der Unabwendbarkeit aus, von Schutzschirmverfahren oder Haftungsfreistellungen Gebrauch zu machen. Genau aus dieser Brisanz heraus pocht die Branche nun auf eine Absicherung durch Fremdkapital und die Stärkung des Eigenkapitals, durch eine Etablierung eines deutschlandweiten Luftfahrt-Fonds. Des Weiteren fordern die Unternehmen eine 100-prozentige Übernahme von Bürgschaften, um eine rasche Liquiditätssicherung zu gewährleisten.
Hohe Innovationskraft muss erhalten bleiben
Die Luftfahrtbranche in Deutschland brachte in den letzten drei Jahren 25-50 Prozent ihrer Investitionen in den massiven Ausbau umweltfreundlicher Technologien und Flugzeuge ein. So stand die Nationale Luftfahrtkonferenz 2019 in Leipzig auch im Zeichen klima- und umweltfreundlicher Technologien. Elektrisches und hybrid-elektrisches Fliegen werden als zentrale Bausteine der deutschen Industriepolitik angesehen. Die Branche gelte zudem als Technologietreiber. „Allein in Baden-Württemberg investieren die Unternehmen mehr als 17 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung und wurden auf den Open-Innovation-Kongress 2020 in Stuttgart als Enabler anderer Branchen hervorgehoben“, machte Rolf-Jürgen Ahlers deutlich und wies damit auf die besondere Bedeutung hin, die hohe Innovationskraft der LuR-Unternehmen zu erhalten.
Dass die Unternehmen der Branche auch noch mittelfristig die heftigen Einschnitte der Corona-Pandemie spüren werden, mache ein weiteres Umfrageergebnis deutlich: Erst ab dem Jahr 2023 gehen die befragten Unternehmen davon aus, wieder das Niveau des Jahres 2019 zu erreichen. Einziger „Lichtblick“ sei, dass sich der militärische und der Raumfahrtmarkt schneller erholen könnten.
Unabhängig davon bleibe angesichts der Krise und der mittelfristigen Überkapazitäten zu erwarten, dass die zivile Luftfahrtzulieferindustrie einem erhöhten Preisdruck ausgesetzt sein werde. Dies resultiere in einer weiteren Schwächung der Liquidität für die Unternehmen. Auf der anderen Seite ergäben sich auch Chancen: Fast 40 Prozent der an der Umfrage beteiligten Unternehmen rechnen langfristig mit einer Second-Source-Strategie der Flugzeughersteller und dadurch mit einer Stärkung des EU-Binnenmarktes. Durch die Corona-Krise träten auch in anderen Branchen die Anfälligkeit der global aufgestellten Lieferketten und deren Abhängigkeiten offen zu Tage, sodass in Zukunft von Stabilisierungsmaßnahmen der Wertschöpfungsketten auszugehen sei.